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Thermische Desinfektion: Die teure Legionellen-Lüge im Warmwasser

Thermische Desinfektion

Thermische Desinfektion

Die Vorstellung, man könne ein vernachlässigtes Warmwassernetz mit einem kurzen Hitzeschock von sämtlichen Mikroorganismen befreien, ist verführerisch – und sie ist hartnäckig. Seit den ersten Legionellen-Epidemien der siebziger Jahre hat sich die thermische Desinfektion in vielen Gebäuden zu einer Art Beruhigungspille entwickelt: Einmal pro Woche wird der Speicher hochgejagt, die Leitungen werden unter kräftigem Fauchen gespült, und schon gilt das System als „sicher“. Doch die Evidenz, die Technik und die Ökonomie sprechen heute eine andere Sprache.

Die Methode basiert auf einer simplen Prämisse: Legionellen sterben bei siebzig Grad Celsius binnen Sekunden. Das Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW) machte diese Erkenntnis 2004 zur Kernforderung seines Arbeitsblattes W 551: Drei Minuten lang, siebzig Grad, an jeder Entnahmestelle – so lautete die damalige Leitlinie, die als „allgemein anerkannte Regel der Technik“ in die Verordnungen wanderte . Im August 2022 erschien jedoch eine völlig neu gefasste Fassung W 551-3. Sie rückt das aufwendige Heißspülen an den Rand und stellt erstmals Reinigung, hydraulische Optimierung und – wo nötig – chemische Verfahren in den Vordergrund. Damit dokumentiert das Regelwerk selbst seine Skepsis gegenüber dem Klassiker – ein stiller, aber deutlicher Paradigmenwechsel .

Der Grund liegt in der ernüchternden Praxisbilanz. Schon die Temperaturanforderung ist in komplexen Netzen kaum zu erfüllen. Das hessische Gesundheitsministerium beziffert den Aufwand: Jede Zapfstelle muss mindestens drei Minuten lang mit siebzig Grad beaufschlagt werden, erst wenn die Zirkulationsleitung überall diese Schwelle erreicht, darf das Spülen beginnen . In Hotels, Kliniken oder Wohnhochhäusern bedeutet das stundenlange Aktionen, bei denen Hunderttausende Liter nahezu kochendes Wasser vergeudet werden.

Selbst wenn der Hitzeschock physikalisch gelingt, bleibt sein hygienischer Wert begrenzt. Das Umweltbundesamt weist seit Jahren darauf hin, dass sechzig Grad allenfalls das Wachstum bremst, während siebzig Grad zwar Legionellen im freien Wasser abtötet, den Biofilm an Rohrwänden aber kaum erfasst – und dort sitzt der eigentliche Keimherd . 2023 resümierte der DVGW-Diskurs „Energieeinsparung und Warmwasser“, es gebe „keinen wissenschaftlichen Nachweis“ dafür, dass die routinemäßige so genannte Legionellenschaltung die Keimzahlen dauerhaft senkt; folgerichtig könne man das Programm abschalten .

Parallel mehren sich Berichte über adaptive Legionellenstämme. Werden sie zyklisch mit hohen Temperaturen konfrontiert, überleben die robustesten Exemplare – ein klassischer Selektionsdruck. Fachautoren sprechen von einer „immer größeren Widerstandsfähigkeit“, die selbst das Dreiminuten-Intervall aushöhlt . Damit verliert die Prozedur ihr letztes vermeintliches Alleinstellungsmerkmal: Verlässlichkeit.

Die zweite Baustelle ist die Energie. Vaillant errechnete jüngst: Schon zwanzig Meter ungedämmte Leitung verlieren bei siebzig Grad rund dreißig Watt pro Meter; auf eine Urlaubs­woche hochgerechnet sind das hundert Kilowattstunden, umgerechnet gut zehn Kubikmeter Gas . Selbst normgerecht isolierte Stränge kommen laut Klimaschutz- und Energieagentur Niedersachsen noch auf acht bis zehn Watt pro Meter. Bei steigenden CO₂-Preisen wird das wöchentliche Hitzebad damit zum kostspieligen Luxus.

Hinzu kommen Materialschäden. Hohe Temperaturen lassen Kalk ausfallen, greifen Dichtungen und Verbundrohre an und begünstigen Korrosion. Dienstleister, die thermische Sanierungen anbieten, warnen selbst vor angegriffenen Schweißnähten, Lötstellen und Deckschichten; Leitungen können nach wenigen Jahren spröde werden . Wer dann in einem Sanierungsobjekt abgelöste Fittings austauschen oder ein Leck aufstemmen muss, zahlt die doppelte Rechnung – erst für die nutzlose Desinfektion, später für das Resultat.

Nicht zu unterschätzen ist das Verbrühungs­risiko. Wasser, das mit über sechzig Grad aus der Armatur schießt, kann binnen Sekunden schwere Hautschäden verursachen. DIN EN 806-2 fordert deshalb Höchsttemperaturen von 38 bis 45 Grad an öffentlich zugänglichen Duschen; die Verbrühungsschutz-Mechanik muss eigens überbrückt werden, damit das Heißspülen überhaupt möglich ist . In Seniorenheimen oder Kitas kollidiert die Desinfektion deswegen mit dem Personenschutz – juristisch ein kaum aufzulösendes Dilemma.

Die Liste der Kollateralschäden wäre unvollständig ohne den Trinkwasserverlust. Bei fünf Zapfstellen pro Wohnung fließen etwa hundert Liter durch jede Wohneinheit, bevor das Verfahren als „wirksam“ gilt; schlecht gedämmte Netze erfordern noch größere Volumina . In Zeiten, in denen selbst Mitteleuropa über sinkende Grundwasser­spiegel diskutiert, ist der Heiß-Durchlauf ökologisch kaum zu rechtfertigen.

All diese Befunde haben Konsequenzen für die Anerkennung des Verfahrens. Weder die Trinkwasserverordnung noch das Infektionsschutzgesetz führen die thermische Desinfektion als dauerhaft zulässige Routine. Gesundheitsämter ordnen sie nur als Notmaßnahme an – verbunden mit der Auflage, strukturelle Mängel nachhaltig zu beheben . In der Schweiz und in Österreich ist der Tenor ähnlich streng; dort gilt die periodische Temperaturerhöhung ausdrücklich als Option „in Sonderfällen“, nicht als Dauerstrategie.

Vor Ort zeigt sich das Fiasko besonders drastisch. Im Carl-Thiem-Klinikum Cottbus etwa wurden über Jahre Legionellen nachgewiesen, obwohl die Warmwasseranlage regelmäßig thermisch gespült wurde; erst nach aufwendigem Umbau und Hydraulik­optimierung sank die Kontamination auf Null – ein Lehrbeispiel für die Grenzen des Hitzeschocks .

Die Geschichte der Regelwerke spiegelt diesen Lernprozess. Das W 551 von 2004 verstand Desinfektion noch primär als Temperaturfrage. Die 2022er-Ausgabe hingegen gliedert das Kapitel Thermik unter die Rubrik „Anlagendesinfektion“ ein, diskutiert ausführlich mechanische Reinigung, verweist auf chemische Alternativen und betont die Pflicht zum bestimmungs­gemäßen Betrieb. Wo die ältere Fassung nach dem Spülen Schluss machte, fordert die neue Dokumente, Nachmessungen, Protokolle – und die Behebung systemischer Schwachstellen. Die Evolution des Arbeitsblatts ist damit identisch mit der Erkenntnis, dass Prävention wichtiger ist als Kurieren.

Für Betreiber bedeutet das eine Verschiebung der Prioritäten. Statt das Wasser kurz auf Siedetemperatur zu jagen, rückt der hydraulische Abgleich in den Fokus – er stellt sicher, dass überall mindestens 55 Grad anliegen, ohne dass einzelne Stränge erkalten. Leitungsführungen werden so kompakt geplant, dass das Drei-Liter-Kriterium eingehalten wird; Speicher­volumina sinken, Zirkulationspumpen laufen bedarfsgesteuert. Wer zusätzlich Filter und Ablauf­spülungen einsetzt, kann den Biofilm kontrollieren, ohne das Netz zu überhitzen. Chemische Desinfektionen mit Wasserstoff­peroxid oder Chlordioxid, fachgerecht dosiert, beseitigen Restkeime im kalten Zustand und schonen die Rohrsubstanz.

Gänzlich verzichtbar ist hohe Temperatur nicht – sie bleibt die letzte Barriere, wenn alle anderen Versäumnisse zusammentreffen. Doch als alleinstehendes Schutzkonzept hat die thermische Desinfektion ausgedient. Sie ist ineffektiv gegen Biofilm, teuer im Betrieb, riskant für Mensch und Material und klimapolitisch aus der Zeit gefallen. Der Versionsvergleich der DVGW-Blätter, die Mahnungen des Umweltbundesamtes und die nüchternen Ergebnisse neuer Studien führen zur gleichen Schlussfolgerung: Sicherheit in der Warmwasserversorgung entsteht nicht durch kurzzeitige Extremtemperaturen, sondern durch dauerhaft eingenommene hygienische Betriebsweisen.

In der Summe bleibt ein klarer Auftrag an Planer, Betreiber und Gesetzgeber. Gebäude, die noch immer auf die wöchentliche „Legionellenschaltung“ vertrauen, sollten ihre Konzepte überprüfen – nicht erst nach der nächsten positiven Probe. Wo Netze schon heute hydraulisch und energetisch optimiert sind, kann die alte Desinfektionsroutine gestrichen werden, ohne das Risiko zu erhöhen. Und wer neu baut, kann mit dezentralen Durchfluss­erwärmern oder kalt betriebenen Leitungsnetzen gleich ganz auf Speichermassen verzichten. Die Ära, in der das öffentliche Gesundheits­interesse mit einer Drei-Minuten-Hitzeaktion bedient wurde, neigt sich ihrem Ende. Das ist kein Verlust, sondern ein Fortschritt: Hygienisch sauber, wirtschaftlich vernünftig und ökologisch verantwortbar ist nur ein Warmwassersystem, das gar nicht erst pathogene Nischen schafft – und deshalb keiner Notoperation bei siebzig Grad bedarf.