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Bluthochdruck-Skandal? Angebliche Grenzwert-Manipulation?

Bluthochdruck-Skandal?

Bluthochdruck-Skandal?

Die Behauptung klingt so verführerisch simpel, dass sie sich in sozialen Netzwerken rasch verbreitet hat: Angeblich hätten Pharmakonzerne im Verborgenen dafür gesorgt, dass die Grenzwerte für Bluthochdruck seit Jahrzehnten Stück für Stück nach unten gesetzt werden, um immer mehr Menschen medikamentenpflichtig zu machen. Wer die Geschichte der Hypertonie‑Leitlinien nüchtern rekonstruiert, stößt jedoch nicht auf heimliche Kungelei, sondern auf einen langen, oft kontroversen wissenschaftlichen Diskurs, der sich quer über den Globus verfolgen lässt. Die Grenzwerte sind nicht das Ergebnis eines verborgen agierenden Industriekartells, sondern das Produkt stetig wachsender Evidenz, leidenschaftlicher Debatten und gelegentlich auch politischer Prioritäten.

Von hohen Werten zu strikteren Schwellen

Als die US‑Gesundheitsbehörde National Heart, Lung and Blood Institute im Jahr 1977 ihre erste umfassende Empfehlung zur Blutdrucktherapie veröffentlichte, galt ein diastolischer Wert von über 105 Millimetern Quecksilber als behandlungsbedürftig. Grundlage waren wegweisende Veterans‑Administration‑Studien, die erstmals zeigten, dass konsequente Senkung hoher Werte Schlaganfälle wirksam verhindert. In den 1990er‑Jahren fiel die Schwelle zunächst auf 160/95 mm Hg und kurz darauf auf 140/90 mm Hg. Der legendäre Bericht „JNC 7“, 2003 publiziert, behielt diese Definition bei, führte jedoch die Kategorie „Prähypertonie“ ab 120/80 mm Hg ein, weil prospektive Kohortendaten belegten, dass das kardiovaskuläre Risiko bereits ab diesem Level ansteigt (JNC 7).

Den bislang markantesten Sprung wagten die American Heart Association und das American College of Cardiology 2017, als sie die Hypertonieschwelle auf 130/80 mm Hg herabsetzten. Schlagartig stieg der Anteil offiziell als hyperton geltender Erwachsener in den Vereinigten Staaten von 32 auf 46 Prozent. Rund 30 Millionen Menschen kamen neu hinzu. Kritiker witterten sofort die gelenkte Hand der Arzneimittelindustrie. Doch die federführenden Autoren betonten damals, dass nur eine Minderheit der neu klassifizierten Patientinnen und Patienten sofort Tabletten benötige; vorrangig empfohlen wurden Gewichtsreduktion, Bewegung und eine salzarme Kost.

Die Rolle großer Studien

Den Ausschlag für den Kurswechsel in Nordamerika gab vor allem die SPRINT‑Studie, 2015 im New England Journal of Medicine veröffentlicht. Bei mehr als 9000 Hochrisikopatienten ohne Diabetes senkte ein intensives Therapieziel von unter 120 mm Hg systolisch die kombinierte Rate aus Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulärem Tod um fast ein Viertel gegenüber dem herkömmlichen Ziel von unter 140 mm Hg. Dieser Vorteil ging allerdings mit vermehrten orthostatischen Schwindelattacken, Elektrolytstörungen und akuten Nierenverletzungen einher. Leitliniengremien mussten folglich abwägen: Ist der Zugewinn an Schutz die zusätzlichen Nebenwirkungen wert? Die US‑Fachgesellschaften sagten Ja, während die europäischen Kolleginnen und Kollegen vorerst vorsichtiger blieben und sich nicht zur dramatischen Absenzung entschließen konnten.

Das vielleicht wichtigste Argument gegen die Verschwörungsthese ist daher die Pluralität der Grenzwerte. Wäre tatsächlich ein globaler Industriebeschluss zur Absenkung am Werk, müssten alle großen Fachgesellschaften synchron die gleichen Schwellen propagieren. Doch die European Society of Hypertension beharrt noch 2025 auf 140/90 mm Hg. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt in ihrer globalen Leitlinie von 2021 ebenfalls erst ab diesem Wert eine Pharmakotherapie, sofern keine zusätzlichen Risikofaktoren vorliegen. In Ländern mit knappen Gesundheitsbudgets akzeptiert die WHO sogar höhere Grenzwerte – ein Umfeld, dessen Marktpotenzial für patentgeschützte Medikamente ausgesprochen begrenzt ist.

Unterschiedliche Grenzwerte weltweit

Während in den USA mittlerweile ein beträchtlicher Teil der erwachsenen Bevölkerung nach strengeren Regeln als „krank“ gilt, bleibt Europa standhaft. Die 2024 veröffentlichten Leitlinien der European Society of Cardiology führen zwar eine neue Kategorie „Elevated Blood Pressure“ zwischen 120/70 und 139/89 mm Hg ein, belassen die Definition von Hypertonie jedoch unverändert. In Japan gelten wiederum leicht eigene Regeln, weil dortige Registerdaten gezeigt haben, dass schon mäßig erhöhte systolische Werte das Risiko für Gehirnblutungen deutlicher steigern als in westlichen Populationen. Selbst innerhalb Europas existieren Nuancen: Das britische NICE‑Institut empfiehlt eine Therapie ab 140/90 mm Hg, verlangt aber stets eine wiederholte ambulante 24‑Stunden‑Messung, bevor Tabletten verordnet werden. All diese Unterschiede wären schwer erklärbar, gäbe es eine „heimliche Grenzwertsenkung“ aus einem einzigen Machtzentrum.

Dass die Industrie dennoch versucht, Leitlinien zu beeinflussen, steht auf einem anderen Blatt. Eine Untersuchung des Fachportals STAT aus dem Jahr 2022 bemängelte, dass viele Leitlinienautoren finanzielle Beziehungen zu Herstellern unterhalten. Das ist kein Geheimnis, sondern wird in den jeweiligen Interessenerklärungen offenbart. Die entscheidende Frage lautet, ob diese Verflechtungen systematisch zu niedrigeren Grenzwerten führen. Dafür gibt es bislang keinen Beleg. Im Gegenteil zeigen Metaanalysen, dass intensivierte Blutdrucksenkung in Hochrisikokollektiven tatsächlich weniger Schlaganfälle und Herzinfarkte verursacht, unabhängig davon, welcher Wirkstoff zum Einsatz kommt. Hätte ein Konzern ein Monopol, ließe sich über Manipulationen spekulieren – doch bei Antihypertensiva konkurrieren inzwischen etliche Generika miteinander.

Ökonomische Dimension und Interessenkonflikte

Weltweit geben Gesundheitssysteme jährlich Milliarden für Blutdrucksenker aus. Gleichwohl verschlingen die Folgekosten unbehandelter Hypertonie ein Vielfaches. Modellrechnungen zeigen, dass die Verhinderung eines einzigen Schlaganfalls langfristig mehr Geld spart, als eine lebenslange Therapie mit günstigen Generika kostet. Dennoch ist die Sorge vor Übertherapie legitim. Die strengeren US‑Grenzwerte sorgten dafür, dass vor allem jüngere Männer plötzlich als krank galten, obwohl ihr absoluter Zehnjahresrisiko‑Score gering blieb. US‑Leitlinien reagierten, indem sie eine Risikoschwelle von zehn Prozent für den Medikamenteneinsatz einführten: Wer darunter liegt, soll zunächst Gewicht reduzieren, Rauchverzicht und Ausdauersport nutzen. Genau dieses Detail unterschlagen Verschwörungserzählungen gern, weil es das Bild des angeblich profitbesessenen Arztes stört.

Die empirische Versorgungsrealität spricht ohnehin eine andere Sprache. In Mitteleuropa erreicht nur etwa die Hälfte aller diagnostizierten Hypertoniker die empfohlenen Zielwerte, sei es aufgrund mangelnder Diagnose, unzureichender Therapie oder schlechter Adhärenz. Hätte die Industrie tatsächlich ein Interesse daran, jeden Grenzwertanstieg sofort mit einer Pille zu beantworten, müsste die Versorgungslage längst anders aussehen. Unter‑ statt Übertherapie bleibt das Kernproblem moderner Hypertonieversorgung.

Diese Diskrepanz nutzt Verschwörungserzählungen als Nährboden. Wer jahrzehntelang mit einem systolischen Ziel von 160 mm Hg lebte und nun hört, dass 130 mm Hg das Maß aller Dinge sein soll, fühlt sich verständlicherweise verunsichert. Das verständliche Unbehagen wird dann von Populistinnen in den sozialen Medien aufgegriffen und in eine Erzählung gegossen: die skrupellose Pharmabranche drücke Grenzen willkürlich nach unten, um Gewinne zu maximieren. Ein Körnchen Wahrheit – reale Interessenkonflikte mancher Experten – genügt, um den Anschein einer großen Verschwörung zu erzeugen.

Fazit: Transparenz statt Verschwörung

Am Ende bleibt von der Idee einer orchestrierten Absenkung kaum mehr als ein rhetorischer Popanz. Die Bewegungen der Blutdruckgrenzen verlaufen nicht geradlinig nach unten, sondern folgen dem Pendel ständiger Neubewertung. Sie speisen sich aus Langzeitkohorten, randomisierten Studien und ökonomischen Erwägungen. Dass unterschiedliche Weltregionen zu abweichenden Schwellen gelangen, unterstreicht die Offenheit des Prozesses. Gewiss verdienen einige Firmen an einer Ausweitung des Marktes; aber das Gleiche gilt für Hersteller von Blutdruckmessgeräten, Fitness‑Apps oder natriumreduzierten Fertiggerichten. Ein conspiratives Singular ist nicht auszumachen.

Die öffentliche Debatte sollte deshalb weniger in alarmistische Schwarz‑Weiß‑Muster verfallen, sondern umso stärker auf transparente Leitlinienprozesse dringen. Fachgesellschaften müssen offenlegen, wer an ihren Papieren mitgeschrieben hat, und ihre Präsidentinnen sollten frei von Industrie­zahlungen sein. Patientinnen und Patienten wiederum benötigen seriöse Messreihen, Kenntnisse der eigenen Risikofaktoren und den Willen, zunächst an Ernährung und Bewegung zu arbeiten. Medikamente bleiben unverzichtbar, wenn Lebensstilmaßnahmen nicht ausreichen oder das Risiko hoch ist. Das Ziel ist nicht der Profit, sondern die Reduktion jenes stillen Gefäßdrucks, den die Weltgesundheitsorganisation jedes Jahr für mehr als zehn Millionen vorzeitige Todesfälle verantwortlich macht.

Wer das komplexe Wechselspiel aus Evidenzgewinn, Gesundheitsökonomie und präventiver Verantwortung auf ein simples „Pharma zieht die Strippen“ reduziert, verkennt, wie Wissenschaft funktioniert – und gefährdet am Ende genau jene Menschen, die er zu schützen vorgibt.