Es war kurz nach Mitternacht im Giuseppe-Meazza-Stadion, als Davide Frattesi die Hände vors Gesicht schlug, den Blick zum nachtschwarzen Himmel hob und von einer gurgelnden Woge aus 72 000 Kehlen verschluckt wurde. Sein Rechtsschuss aus dreizehn Metern beendete ein Halbfinale der Champions League, das in seiner barocken Dramaturgie an die unsterblichen Nächte von La Romareda oder Anfield erinnerte. Inter Mailand besiegte den FC Barcelona mit 4:3 nach Verlängerung und zog mit dem Gesamtergebnis von 7:6 in ein Endspiel ein, das am 31. Mai in München zur Aufführung gelangt.
Vor dem Anpfiff
Schon die Ouvertüre war hemmungslos übersteuert. Beide Mannschaften brachten ein 3:3-Polster aus dem Hinspiel im Estadi Lluis Companys mit, und im San Siro hing die Luft schwer von Pyro-Schwaden und dem rollenden Donner der Curva Nord. Der erst siebzehnjährige Lamine Yamal, im ersten Duell noch Auslöser kollektiver Inter-Albträume, wurde beim Aufwärmen gnadenlos ausgepfiffen – Teil des Plans von Simone Inzaghi, der sagte, man müsse Yamals „außergewöhnliche Qualität“ diesmal im Keim ersticken.
Ein frühes Beben im San Siro
Den besseren Nervenkostümtest absolvierte zunächst der Gastgeber. Nach zwölf Minuten zwang eine vertikale Stafette die katalanische Hintermannschaft in Rücklage, Lautaro Martínez drückte eine flache Dimarco-Hereingabe über die Linie. Als wenig später Hakan Çalhanoğlu einen Strafstoß verwandelte, den der VAR nach Araújos Handspiel verhängt hatte, schien Inzaghis Plan, das Zentrum mit frühen Nadelstichen zu unterminieren, voll aufzugehen.
Katalanische Wiederauferstehung
Doch noch vor der Pause wechselte das Gravitationszentrum. Barcelona, von Hansi Flick mit der gewohnten Tendenz zur hoch stehenden Viererkette ausgestattet, fand über Pedri und Dani Olmo seinen Rhythmus. Olmos Ecke landete auf dem Kopf von Eric García, der Anschlusstreffer weckte Erinnerungen an Rom 2009. Sechs Minuten später veredelte Olmo eine sezierend genaue Yamal-Flanke mit dem Außenrist. Plötzlich taumelte Inter.
Die späte Katharsis
Der zweite Durchgang geriet zur Begegnung zweier widerstreitender Temperamente. Flick ließ seine Flügelspieler in die Halbräume einrücken und beraubte Inzaghis Dreierkette der zahlenmäßigen Überlegenheit. In der 87. Minute krönte Raphinha eine Kombination über Olmo und Alejandro Balde mit einem Linksschuss in den Winkel – sein einundzwanzigster Scorerpunkt der Saison, womit er Cristiano Ronaldo aus der Spielzeit 2013/14 einholt.
Barcelona wähnte sich bereits im Taxi Richtung Eisbach, als Inter den letzten Akkord anstimmte. Eine weite Flanke Çalhanoğlus wurde von Francesco Acerbi in der dritten Minute der Nachspielzeit über Marc-André ter Stegen hinweg ins Tor gestochert. Die Gleichung lautete erneut 3:3, die Gesamtsumme 6:6; der Fußball erwies sich an diesem Abend als unerschöpflicher Kreditgeber des Spektakels.
Verlängerung und Entscheidung
In der Verlängerung schob Flick Jules Koundé ins defensive Mittelfeld, um Çalhanoğlu zu neutralisieren, doch die Umstellung fraß die letzte Körnung Restenergie. Inter roch Blut. Yann Sommer hielt reflexartig gegen Yamal und Raphinha, ehe Nicolò Barella einen Diagonalpass in den Lauf Frattesis legte. Der 25-Jährige drosch den Ball, als wolle er sämtliche Selbstzweifel einer Generation widerlegen, in die linke Ecke. Die 13 Tore, die diese Paarung in 210 Spielminuten produzierte, stellen einen neuen Semifinal-Rekord der Königsklasse auf und verdrängen das 12-Tore-Duell Dortmund – Legia Warschau von 2016.
Taktische Lesarten
Der Abend las sich als Kollision zweier Schulen. Inzaghis 3-5-2, dessen Flügelverteidiger Federico Dimarco und Denzel Dumfries in der Rückwärtsbewegung effektiv eine Fünferkette bildeten, traf auf Flicks 4-3-3, das situativ in ein 3-2-5 einschwenkte. Craig Burley monierte bei ESPN, Barcelona habe „mit der Linie gezockt, bis sie platzte“. Tatsächlich hielt Araújo die Kette wiederholt einen Takt zu hoch, wodurch Inter Raum für Tiefenläufe fand.
Wie so oft unter Inzaghi funktionierte vor allem die Psychologie. „Es brauchte ein Super-Inter, zwei monströse Auftritte“, sagte der Trainer, der zum zweiten Mal nach 2023 ins Finale einzieht, und ergänzte, er wolle „diesen Jungs keine Minute ihrer Freude rauben“. Sommer, ein Jahr zuvor von den Bayern losgeeist, lieferte fünf Paraden – so viele wie seit dem Hinspiel keiner seiner Kollegen mehr aufbieten musste.
Bedeutung für Inter und Lehren für Barcelona
Für Inter öffnet sich nach 2010 und 2023 erneut ein Tor zur kontinentalen Unsterblichkeit. Während in der Serie A die Etats stagnieren, zeigt der Klub, dass strategische Kaderplanung auch ohne petrodollargetriebene Exzesse auskommt. Geschäftsführer Giuseppe Marotta und Ausbilder Inzaghi beweisen, dass Kontinuität die einzig belastbare Währung im modernen Fußball ist. Die Einnahmen aus den Abgängen von Alessandro Bastoni und Benjamin Pavard wurden in Kaderbreite investiert, die es erlaubt, Qualität von der Bank zu bringen – Frattesi ist das sprechendste Beispiel.
Barcelona dagegen muss akzeptieren, dass eine Mannschaft, die auf Eigengewächse wie Yamal, Marc Giu und Pau Cubarsí setzt, gelegentlich Lehrgeld bezahlt. Doch der Klub kann aus diesem Scheitern zukunftsfähiges Kapital schlagen: Die Identität, die Flick binnen zehn Monaten geformt hat, ist auf dem Platz sichtbar. Noch fehlt die abgeklärte Reife, mit der Inter kurz vor Schluss zurückschlug; doch die Blaugrana haben gezeigt, dass sie wieder fähig sind, in die Tiefenzonen Europas vorzustoßen.
Blick auf das zweite Halbfinale
Über dem Wettbewerb schwebt nun die Aussicht auf ein Finale, das sich an diesem Mittwoch endgültig konturiert. Im Parc des Princes empfängt Paris Saint-Germain den Arsenal FC; die Franzosen bringen ein 1:0-Polster aus dem Hinspiel an der Themse mit, erzielt von Ousmane Dembélé. Das auf neuronalen Netzen basierende Super-Computer-Modell von Opta favorisiert PSG mit 55 Prozent, doch Arsenals eindrucksvolle Bilanz von sechzehn Auswärtstoren in vier K.-o.-Spielen nährt Mikel Artetas Hoffnung, Inter den zweiten Londoner Gegner binnen drei Jahren zu bescheren.
Ein Finale voller Versprechen
Welcher Kontrahent es auch wird – Inter blickt mit gesundem Selbstbewusstsein nach München. Die Nerazzurri suchen dort nicht nur den vierten Henkelpott ihrer Geschichte, sondern auch den symbolischen Schulterschluss mit der eigenen Vergangenheit. Sie erinnern an die Mannschaft von 2010, deren Kern um Maicon, Diego Milito und Esteban Cambiasso damals die Summe ihrer Einzelteile überstieg. Heute ist es eine Generation um Martínez, Barella und Frattesi, die dieselbe Dialektik aus Opferbereitschaft und Grandezza verkörpert.
Für den europäischen Fußball markiert dieser Halbfinal-Krimi eine Rückkehr zur Unberechenbarkeit, die der Wettbewerb während der pandemischen Geisterspiele zeitweilig einbüßte. Vier Halbzeiten reichten nicht, um Gewinner und Verlierer zu definieren; erst die Verlängerung offenbarte die Entblößung menschlicher Grenzen – ein Narrativ, das die Champions League dringender braucht als jede Super-League-Debatte.
So endet eine Nacht, in der Inter Mailand den eigenen Mythos nährte und Barcelona an seiner Nahtstelle zwischen Sturm und Stadtsanierung zerriss. Doch die Königsklasse atmet kurz durch und sammelt Kraft für die letzte Enthüllung dieses Frühjahrs, wenn in Paris der zweite Finalist ermittelt wird. Ein Finale Inter gegen PSG böte das filmreife Duell italienischer Pragmatik gegen französische Opulenz, ein Aufeinandertreffen mit Arsenal die Fortsetzung einer langen Italo-anglo-sächsischen Rivalität. So oder so hat der 6. Mai 2025 den Maßstab gesetzt, an dem sich die kommenden Nächte messen lassen müssen.
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