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“Geheime Technikmacht: Wie ein Verein Deutschlands Regeln schreibt – und Brüssel warnt”

Technikmacht DVGW

In der Welt technischer Infrastruktur gibt es Begriffe, die so selbstverständlich erscheinen, dass kaum jemand sie hinterfragt – Begriffe wie „allgemein anerkannte Regeln der Technik“, kurz a.A.R.d.T. Wer in Deutschland ein Trinkwassernetz plant, eine Gasleitung verlegt oder eine Feuerlöschanlage projektiert, wird in irgendeiner Form mit dieser Formel konfrontiert. Sie begegnet einem in Verträgen, in Bauordnungen, in gerichtlichen Entscheidungen – fast wie ein technisches Naturgesetz. Doch was verbirgt sich hinter dieser Formulierung, die so unscheinbar daherkommt und doch über Milliardenprojekte, Haftungsfragen und politische Linien entscheidet?

Die a.A.R.d.T. definieren, was im jeweiligen Zeitpunkt des Geschehens – also etwa zum Bauzeitpunkt – als technisch etabliert, bewährt und allgemein anerkannt gilt. Sie sind weder zwingend die modernste noch die innovativste Lösung, sondern spiegeln den gesicherten Stand der Technik wider, der unter Fachleuten unstrittig ist. Das klingt nach einem wissenschaftlich fundierten Konsens, einem offenen Diskurs innerhalb der Fachwelt. Doch die Realität sieht komplexer – und problematischer – aus.

Ein Großteil dessen, was in Deutschland unter die a.A.R.d.T. fällt, stammt aus den Regelwerken privatrechtlicher Vereine. Insbesondere im Bereich der Gas- und Wasserversorgung hat sich der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW) als faktisches Normungsorgan etabliert. Dieser Verein, gegründet 1859, gibt „technische Regeln“ heraus, die nicht nur in Ingenieurkreisen breite Anwendung finden, sondern auch von Behörden, Versicherungen und Gerichten als verbindlicher Maßstab herangezogen werden. Die DVGW-Regelwerke gelten in vielen Bereichen als Synonym für die a.A.R.d.T., obgleich sie formal keine staatlich verordneten Normen sind und der Verein selbst kein Organ der öffentlichen Verwaltung darstellt.

Dieser Umstand wirft grundlegende Fragen auf: Wie kann ein privatrechtlicher Verein De-facto-Normen mit solcher Bindungswirkung erlassen? Wo liegt die Grenze zwischen fachlicher Expertise und institutionalisierter Macht? Und wie geht Europa mit der zunehmenden Verschmelzung technischer Normung und wirtschaftlicher Interessen um?

Ein Blick auf die Entstehung solcher Regelwerke hilft beim Verständnis. Der DVGW arbeitet mit Fachausschüssen, in denen Vertreter aus Industrie, Wissenschaft, Verwaltung und teilweise auch zivilgesellschaftliche Akteure mitwirken. In der Praxis dominieren jedoch Vertreter großer Versorger und Hersteller die Gremien – ein Umstand, der in der Vergangenheit immer wieder Kritik ausgelöst hat. Wer finanziell in der Lage ist, die regelmäßigen Beiträge für eine aktive Mitwirkung aufzubringen, kann Einfluss nehmen – nicht zuletzt auf Formulierungen, Übergangsfristen und Prüfmethoden. Kleine Marktteilnehmer, disruptive Technologien oder wissenschaftliche Außenseiter haben es schwer, Gehör zu finden. So entsteht ein Konsens, der weniger demokratisch als korporatistisch wirkt.

Die technische Qualität vieler DVGW-Regeln stehen meist außer Zweifel. Sie sind das Ergebnis jahrzehntelanger Erfahrung, fundierter Expertise und eines weit verzweigten Netzes an Fachleuten. Doch genau darin liegt auch die Gefahr: In der Selbstverständlichkeit ihres Anspruchs, ohne eine unabhängige Kontrolle oder formale Akkreditierung, wird das Regelwerk zum Monolithen, der sich nur schwer hinterfragen lässt. Die Entscheidung, ob eine neue Technologie – etwa zur Wasserdesinfektion – zulässig ist, hängt dann nicht nur vom technischen Nachweis ab, sondern oft vom Segen des DVGW. Ein abweichender Ansatz, der nicht dem Wortlaut der Arbeitsblätter entspricht, hat es schwer, auch wenn er wissenschaftlich fundiert oder regulatorisch anerkannt ist.

Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit physikalischen Verfahren zur Wasseraufbereitung, etwa durch UV-Licht, Membranfiltration oder Kavitation. Solche Technologien können mikrobiologisch hochwirksam sein, passen aber nicht immer in die Schemata klassischer Prüfverfahren des DVGW. Während europäische Normen wie die Trinkwasserrichtlinie oder die EU-Biozidverordnung zunehmend auf Ergebnisorientierung und Innovationsoffenheit setzen, hält der deutsche Markt oft an verfahrensgebundenen Prüfprotokollen fest – mit Verweis auf die a.A.R.d.T. Das Regelwerk wird zur selektiven Hürde: Wer sich ihm beugt, erhält Zugang; wer davon abweicht, riskiert Ablehnung, auch wenn die Technik im europäischen Ausland längst erfolgreich eingesetzt wird.

Die EU-Kommission hat diesen strukturellen Missstand längst erkannt. In mehreren Stellungnahmen und Vertragsverletzungsverfahren wurde deutlich gemacht, dass private Organisationen, die De-facto-Normen mit Marktwirkung erlassen, entweder einer formalen Akkreditierung unterliegen oder transparenten, diskriminierungsfreien Prozessen folgen müssen. Die Akkreditierung soll sicherstellen, dass Normung nicht zu einem Instrument der Marktabschottung wird, sondern dem Gemeinwohl dient. Der DVGW hingegen ist bis heute keine akkreditierte Normungsorganisation im Sinne der europäischen Normungsrichtlinie. Seine Regeln entstehen außerhalb der DIN- oder EN-Systematik – und entziehen sich damit sowohl der formalen Kontrolle als auch dem europäischen Gleichklang.

Diese Schieflage führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen nationalen Praktiken und europäischen Vorgaben. Während Brüssel auf Harmonisierung und Wettbewerbsneutralität pocht, hält Deutschland an einem historisch gewachsenen Modell fest, das technisches Fachwissen mit institutioneller Verankerung gleichsetzt. Die Praxis vieler Behörden, DVGW-Regelwerke als einzig zulässige Grundlage zu interpretieren, verstärkt diese Verzerrung. Das Ergebnis ist eine faktische Monopolisierung des technischen Diskurses, die Innovation bremst und alternative Lösungen ausgrenzt.

Ein besonders illustratives Beispiel ist der Versionsvergleich innerhalb eines Regelwerks. Wenn etwa das DVGW-Arbeitsblatt W 551 zur Legionellenvermeidung in der Trinkwasserinstallation überarbeitet wird, kommt es regelmäßig zu Verschärfungen und Erweiterungen. Dabei entstehen Situationen, in denen ältere, noch gültige Anlagen nach früherer Version betrieben werden, während neue Planungen strengeren Anforderungen unterliegen. Die Übergangsregelungen sind oft diffus, und die Frage, ob ein abweichendes Verfahren als gleichwertig gilt, wird selten objektiv beantwortet. Der Rückgriff auf den Begriff „allgemein anerkannt“ wird dann zur Chiffre für Normkonformität, nicht für sachliche Gleichwertigkeit.

Was aber heißt „anerkannt“ in einem liberalisierten, wissenschaftlich pluralen Markt? Anerkennung setzt Kommunikation, Vergleich und Offenheit voraus. In der Praxis jedoch erfolgt die Anerkennung oft implizit – durch Aufnahme in ein Regelwerk, durch Zulassung durch bestimmte Prüfstellen, durch technische Empfehlung. Der Diskurs bleibt auf die Gremien beschränkt, die auf den jeweiligen Standard setzen. Ein Verfahren, das sich in Schweden oder Frankreich längst etabliert hat, kann in Deutschland scheitern – nicht wegen mangelnder Wirkung, sondern wegen fehlender Regelkompatibilität.

Die a.A.R.d.T. werden so zu einem Instrument, das zwischen Schutz und Abschottung changiert. Ihr Ursprung liegt im legitimen Wunsch, Schaden zu vermeiden, Qualität zu sichern und Standards zu schaffen. Doch ihr gegenwärtiger Gebrauch wirft Fragen auf, die über Technik hinausreichen: Wer definiert, was gilt? Wer darf mitreden? Und wie offen ist ein System, das sich auf private Regeln mit öffentlicher Wirkung stützt?

In einer Zeit, in der Nachhaltigkeit, Innovation und europäische Integration zu den Kernaufgaben der technischen Entwicklung zählen, erscheint es dringend geboten, den Begriff der a.A.R.d.T. neu zu verorten. Sie dürfen nicht als starre Zitadelle verstanden werden, sondern als lebendiger Spiegel eines fachlichen Dialogs, der offen für Neues bleibt. Das setzt allerdings voraus, dass Regelwerke nicht nur durch Fachkreise, sondern auch durch unabhängige Prüfmechanismen legitimiert werden. Akkreditierung, Transparenz, Beteiligung – das sind keine formalen Hürden, sondern Voraussetzungen für Vertrauen.

Der DVGW könnte in diesem Prozess eine konstruktive Rolle spielen, wenn er sich öffnet, europäische Standards integriert und seine Regelsetzung als Teil eines pluralen, überprüfbaren Diskurses versteht. Die Technik entwickelt sich – die Regeln müssen ihr folgen, nicht umgekehrt. Nur so bleibt der Begriff der „allgemein anerkannten Regeln der Technik“ das, was er sein sollte: ein Garant für Sicherheit, Qualität – und Offenheit.

Quellen:

– Europäische Kommission, Mitteilungen zur Normungsstrategie und zu Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten

– DVGW – Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches e.V., offizielle Arbeitsblätter und Gremienstrukturen

– DIN – Deutsches Institut für Normung e.V.

– VDI – Verein Deutscher Ingenieure

– EU-Richtlinie 2015/1535 über technische Vorschriften

– Interviews und Fachgespräche mit Experten der Wasser- und Gasbranche (anonymisiert)

– Deutsche Trinkwasserverordnung (TrinkwV), Kommentierung und Vollzugshinweise

– Fachartikel und juristische Analysen zur Bedeutung der a.A.R.d.T. (u. a. in Beuth-Kommentaren, ZfBR, Nds. Justizministerium)