Der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW) pflegt in der Öffentlichkeit das Bild einer technisch-wissenschaftlichen Instanz, die – scheinbar frei von Partikularinteressen – über die Sicherheit unserer Versorgungsnetze wacht. Doch je tiefer man die Schichten dieses traditionsreichen Vereins durchdringt, desto deutlicher zeigt sich ein Geflecht aus persönlichen Verbindungen, Lobbybudgets und normativem Einfluss, das in seiner Dichte an klassischen Behördenversagen erinnert – nur dass hier keine staatliche Behörde, sondern ein privatrechtlicher Verein die Regeln schreibt und von denselben profitiert.
Die Hebel, die der DVGW hierfür in Händen hält, sind enorm. Seine Arbeitsblätter gelten in Deutschland als „allgemein anerkannte Regeln der Technik“; Richter, Gesundheitsämter und Versorgungsunternehmen stützen sich im Zweifel auf dieses Regelwerk. Wer DVGW-konform arbeitet, minimiert Haftungsrisiken – wer das nicht kann, verschwindet rasch vom Markt. In keiner anderen europäischen Branche hat eine Vereinigung derart weitreichende normative Macht ohne demokratische Kontrolle.
Ein Blick in das Präsidium offenbart, warum der Verein so reibungslos zwischen Gemeinwohlrhetorik und Brancheninteressen changiert. Der langjährige Vizepräsident Jürgen Lenz kam aus dem oberen Management von BASF; er gehört dem Führungsgremium seit 2002 an und leitet zugleich den Forschungsbeirat Gas . Mit Dr. Thomas Hüwener sitzt dort parallel ein Geschäftsführer des Pipelinebetreibers Open Grid Europe, flankiert von Michael Riechel, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerkeholding Thüga . Schon in den Nullerjahren geriet der Essener Kommunalkonzern wegen Vetternwirtschaft in die Schlagzeilen – ein damaliger Aufsichtsrat war zugleich Mitglied im DVGW-Präsidium . Es ist diese Personalunion aus Verbandsmacht, kommunaler Daseinsvorsorge und Konzernkarrieren, die den Verein so durchsetzungsstark macht und ihm ein politisches Gewicht verleiht, das seine Rechtsform nie vermuten ließe.
Wie intensiv der DVGW lobbyiert, lässt sich dort ermessen, wo Transparenzregeln greifen. In der Brüsseler Interessenvertretung rangierte der Verein laut Corporate Europe Observatory bereits während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 unter den aktivsten Gaslobbyisten und profitierte zugleich von den Lücken des freiwilligen Registers . Reclaim Finance weist darauf hin, dass erhebliche Teile dieser Lobbyarbeit kaum dokumentiert werden – Treffpunkte, Budgets, Personal bleiben im Dunkel . National verfuhr man ähnlich geschickt: Als die Ampel-Koalition ihr Heizungsgesetz überarbeitete, prägten DVGW-Statements zur angeblichen „Unverzichtbarkeit von Wasserstoff“ die Schlagzeilen; LobbyControl zeichnete minutiös nach, wie die Gaswirtschaft mittels DVGW ihre Schneise in das Gesetz schlug .
Diese strategische Doppelrolle – Regelsetzer einerseits, Lobbyvehikel andererseits – wird nirgends deutlicher als bei den Normen zur Trinkwasserhygiene. Das Arbeitsblatt W 551 aus dem Jahr 2004 legte erstmals die Drei-Liter-Regel als Grenze zwischen Klein- und Großanlagen fest; wer darüber lag, musste kostspielige Legionellenprüfungen und gegebenenfalls Desinfektionen vornehmen . Was damals als Fortschritt für die öffentliche Gesundheit verkauft wurde, eröffnete zugleich einen Milliardenmarkt für Chemikalien und Messtechnik.
Knapp zwei Jahrzehnte später ist aus einem einzigen Blatt eine ganze Normenfamilie geworden. Teil 3 „Reinigung und Desinfektion“ erschien 2022 und zählt 37 Seiten – ein regeltechnisches Monument, das Desinfektionsverfahren detailliert beschreibt, ohne alternative physikalische oder elektrochemische Methoden ernsthaft zu prüfen (DIN Media). Nur ein Jahr darauf folgte Teil 7, der Herstellern von Druckerhöhungsanlagen bis hin zu Transport und Lagerung minutöse Vorgaben macht , 2024 kam Teil 4 zum Umgang mit Pseudomonas aeruginosa hinzu . Versionen vergleichen heißt hier, die permanente Verdichtung der Pflichten zu beobachten: Wo 2004 Temperaturschock oder Durchströmung ausreichten, fordert die Neufassung heute in vielen Fällen chemische Desinfektion als „sichere Maßnahme“.
Dass ausgerechnet Biocide systematisch bevorzugt werden, ist kein Zufall. Auf der Homepage des DVGW findet sich eine eigens kuratierte Übersicht zu „Beschaffung, Qualitätssicherung und Handhabung von Desinfektionsmitteln“, die gleich mit dem Stichtag 12. Januar 2026 an künftige Grenzwerte erinnert – ein eleganter Türöffner für Anbieter von Chlordioxid, Hypochlorit und deren Zubehör . Parallel finanziert der Verein Forschungsvorhaben wie „NaChlorat“ (W 201825), die ausschließlich die Optimierung eben dieser Chemikalien untersuchen, nicht aber konkurrierende Verfahren .
Die Marktkonzentration lässt sich im öffentlichen Zertifikatsregister der DVGW CERT GmbH studieren: Unter den hunderten gelisteten Fachunternehmen dominieren Anbieter von Chlordioxid-Lösungen; Systeme auf Basis von Kupfer-Silber-Ionisation oder UV-Technik sucht man vergeblich . Wer eine solche Anlage dennoch verbauen will, stößt in Teil 3 der neuen W 551 auf Passagen, die das Verfahren zwar erwähnen, zugleich aber zusätzliche Prüf- und Dokumentationshürden errichten – ein klassisches Einfallstor, um Mitbewerber kostenseitig aus dem Feld zu schlagen. Das Robert-Koch-Institut verweist in seinen Legionellenleitlinien konsequent auf die W-551-Reihe; alternative Methoden sind dort allenfalls Randnotiz .
Die Folge dieser Normen-Architektur ist ein verschobener Wettbewerb. Während Chemiekonzerne faktisch eine Garantie haben, dass ihre Produkte den DVGW-Stempel erhalten und damit bundesweit ausgeschrieben werden können, verkommen physikalische Verfahren zum Nischengeschäft. Hersteller berichten, dass sie zum Teil mehrjährige Prüfprogramme durchlaufen müssten, ohne Aussicht auf Anerkennung – ein Investitionsrisiko, das kaum ein Mittelständler trägt. Zugleich verdient der Verein an jeder Normveröffentlichung, jedem Seminarplatz und jedem Zertifikat, das seine Tochtergesellschaft ausstellt.
Ironisch ist, dass der DVGW sich parallel zum Anwalt des Gewässerschutzes stilisiert. Im Forschungsverbund „DesiRe“ warnt er selbst vor Desinfektionsnebenprodukten wie Chlorat und halogenierten Essigsäuren, die bei Einsatz von Chlordioxid entstehen . Gleichwohl verschärft er die Richtlinien so, dass Anlagenbetreiber kaum eine Wahl haben, als noch mehr Biocide einzusetzen, um neue Grenzwerte einzuhalten – ein zirkulärer Mechanismus, an dessen Ende sich die Chemieindustrie die Hände reibt.
Dieses Muster passt zur klimapolitischen Doppelstrategie des Vereins. Während DVGW-Präsidenten in Berlin für „technologieoffene“ Gasnetze werben, sichern dieselben Normungsgremien den Absatz fossiler Reststoffe im Namen der Hygiene. Der Schulterschluss mit der Biocid-Branche ist also kein Betriebsunfall, sondern die logische Konsequenz einer Governance, die Wirtschaftspartner in die eigenen Reihen holt.
Was bleibt, ist der demokratische Blindfleck: Ein privater Klub schreibt Regeln, die für jedermann gelten, wird von Firmen getragen, die an deren Umsetzung verdienen, kontrolliert sich selbst und verbucht Lobbybudgets, die außerhalb jedes öffentlichen Rechenschaftsberichts liegen. Dass Bundesregierung und Länder diese Konstruktion dulden, erklärt sich historisch aus dem Bedürfnis nach „technischer Selbstverwaltung“. Heute schützt diese Formel ein fein gesponnenes System aus Zertifikatsgebühren, Seminareinnahmen und politischem Einfluss.
Für die Konkurrenz, die mit weniger aggressiven Verfahren antritt, bleibt damit nur der Weg vor die Gerichte. Mehrere Hersteller von Kupfer-Silber-Ionisationsanlagen bereiten inzwischen Klagen vor, um die Anerkennung ihrer Technologie durchzusetzen; sie stützen sich auf EU-Wettbewerbsrecht und argumentieren, der DVGW benutze seine Normungsmacht, um den Markt zugunsten chemischer Hersteller zu verengen. Sollte Brüssel diesen Argumenten folgen, stünde das deutsche Modell technischer Selbstverwaltung selbst zur Disposition.
Indes sorgt jede neue Fassung der W-551-Reihe für zusätzlichen Zeitdruck. Ab 2026 gelten strengere Grenzwerte für Halogenessigsäuren; Betreiber von Krankenhäusern und Altenheimen rüsten hektisch nach – mit Chlordioxid, weil Alternativen keine Zertifizierung besitzen. Die Spirale dreht sich weiter, und der DVGW verdient an jeder Umdrehung.
Wer sich Transparenz und Wettbewerb in der Wasserhygiene wünscht, muss deshalb nicht nur Nebentätigkeiten offenlegen, sondern das Geschäftsmodell der Normung an sich neu verhandeln. Solange der Verein zugleich Schiedsrichter, Trainer und Ausrüster bleibt, wird er seine Regeln so schreiben, dass sie den eigenen Kassen und jenen seiner engsten Partner nützen. Der Staat hat der Branche diese Macht einst überlassen; er könnte sie ihr ebenso gut wieder entziehen. Das wäre kein Angriff auf die Fachkompetenz – sie würde in wissenschaftlichen Instituten und unabhängigen Prüflaboren weiterbestehen –, sondern die Wiederherstellung eines Gleichgewichts, in dem Gesundheit, Umwelt und Marktteilnehmer gleiche Chancen haben.
Bis dahin ist die Hygiene unseres Trinkwassers ein lukratives Spielfeld. Der DVGW hat gelernt, es mit der Präzision eines Ingenieurs zu bespielen. Die Zeche zahlen Verbraucherinnen und Verbraucher in Form steigender Betriebskosten und wachsender chemischer Last im Leitungsnetz. Wer behauptet, Normung sei ein trockener Stoff, irrt – hier fließt nicht nur Wasser, hier fließt Geld. Und zwar in Strömen.
Quellenangabe:
§ 17 Trinkwasserverordnung (TrinkwV 2023)
DVGW – Präsidenten & Präsidium
DVGW-Pressemitteilung vom 1. Oktober 2021 (Präsidium gewählt)
Corporate Europe Observatory – „Corporate Lobbying and the German EU Presidency“ (2020)
Reclaim Finance – „Out with Science, In with Lobbyists“ (2021)
LobbyControl – „Wie die Gaslobby das Heizungsgesetz entkernt hat“ (2023)
DVGW-Übersichtsseite „Trinkwasser-Installation“ (W 551-Reihe)
DVGW-Themenseite „Desinfektionsmittel“ (Halogenessigsäuren ab 12. Januar 2026)
DVGW-Forschungsprojekt „NaChlorat“ (W 201825, 2018–2019)
DVGW-Forschungsprojekt „DesiRe“ (W 202121)
Robert-Koch-Institut – Fachinformation Legionellose (Bezug auf W 551)
Bundesrats-Drucksache 68/23 (Übergangsfristen TrinkwV bis 11. Januar 2026)
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