Vor dem Kardinalsplatz
Im frühen Abendlicht des siebten Mai zieht eine purpurrote Prozession über die Marmorflure des Apostolischen Palastes zur Sixtinischen Kapelle. Voran schreitet ein schmaler Mann, der sein rotes Pileolus mit der linken Hand zupft und mit der rechten den Hirtenstab hält. Pietro Parolin, seit zwölf Jahren Kardinalstaatssekretär, eröffnet das Konklave und schließt die weltliche Öffentlichkeit mit dem traditionsreichen „extra omnes“ aus. Kaum ein Würdenträger genießt in diesem Moment größere Autorität – und niemand steht so im Brennglas weltkirchlicher Erwartungen. Denn der Zeremonienmeister gilt zugleich als aussichtsreichster Kandidat, das fünftgrößte Pontifikat der neueren Geschichte anzutreten. Dass er die 133 wahlberechtigten Purpurträger um 16.30 Uhr in die Kapelle führt, macht ihn noch vor dem ersten Rauchzeichen zum mächtigsten Katholiken der Gegenwart (Vatikanisches Presseamt).
Der stille Dirigent des Konklaves
Die Dramatik des Augenblicks speist sich aus jüngsten Ereignissen. Papst Franziskus starb am 21. April 2025; sein silberner Fischerring ist zerbrochen, die „Sede vacante“ ausgerufen. Acht Tage später versammelten sich Staats‑ und Regierungschefs auf dem Petersplatz zum Requiem, worauf neun Novemdiales‑Messen folgten, bei denen Parolin den würdevollen Ersten unter Gleichen gab und damit eine Kontinuität versprach, die der 1,4‑Milliarden‑Gemeinschaft in einer Phase der Verunsicherung Halt bot (Osservatore Romano). Nie zuvor seit Einführung der Altersgrenze nahmen so viele Wahlkardinäle teil, die Mehrheit von ihnen verdankt ihr rotes Birett dem verstorbenen Papst.
Diplomatische Lehrjahre
Wer ist dieser stille Dirigent? Geboren 1955 im norditalienischen Vicenza als Sohn eines Fiat‑Werkmeisters und einer Schulsekretärin, zeigte Parolin schon im Priesterseminar eine seltene Begabung für Sprachen und kanonisches Detail. 1983 entsandte ihn Rom an die Päpstliche Diplomatenakademie; erste Posten führten ihn nach Nigeria, wo er Malaria überstand, und nach Mexiko, wo er das Nordamerikanische Freihandelsabkommen in innerkirchliche Sozialhirtenbriefe übersetzte (Archiv der Päpstlichen Diplomatenakademie). Die Erfahrung der Peripherie prägte sein späteres Credo, Konflikte lieber zu mildern als theologisch endgültig zu entscheiden.
Verträge mit Hanoi und Peking
Besondere Anerkennung erwarb sich Parolin in der heiklen Annäherung zwischen dem Heiligen Stuhl und Vietnam. Schon 2007 leitete er eine Delegation nach Hanoi, die erstmals seit dem Indochinakrieg einen Dialog über Religionsfreiheit eröffnete. Sechzehn Jahre später besiegelte er als Staatssekretär eine Vereinbarung, die dem Vatikan einen residierenden Vertreter garantiert und den Katholiken des Landes Rechtssicherheit verschafft (Außenministerium Vietnam). Noch spektakulärer, aber weitaus umstrittener ist Parolins Handschrift im China‑Abkommen von 2018, das er 2022 verlängerte. Die Vereinbarung räumt der chinesischen Regierung Mitspracherecht bei Bischofsernennungen ein und soll langfristig eine Spaltung zwischen Untergrund‑ und Staatskirche verhindern. Dissidenten wie Kardinal Zen geißeln das Dokument als Kapitulation vor einem Regime, das Religionsfreiheit selektiv gewährt, während Vatikanjuristen es als vorsichtige Ostpolitik des einundzwanzigsten Jahrhunderts loben (Hongkonger Diözesanarchiv).
Ein Schatten aus London
Während Parolin außenpolitisch glänzte, geriet er innenpolitisch in die Schlagzeilen, als 2021 die Londoner Immobilienaffäre ans Licht kam. Dokumente belegten, dass das Staatssekretariat 2014 eine üppige Summe in ein Luxusobjekt in Chelsea investiert hatte – ein Geschäft, das am Ende dreistellige Millionenverluste verursachte. Parolin blieb strafrechtlich unbehelligt, verlor jedoch seinen Sitz im Aufsichtsrat der vatikanischen Finanzbehörde. Kritiker innerhalb der Kurie sehen darin einen Makel, der im Konklave Stimmen kosten könnte; Befürworter argumentieren, er habe Verantwortung übernommen, indem er den Schaden offenlegte und eine striktere Finanzaufsicht einführte (Römische Kurienprotokolle).
Kandidat der Kontinuität?
Der Blick der Weltkirche auf den Siebzigjährigen ist ambivalent. Auf der einen Seite steht seine Erfahrung als enger Vertrauter und faktischer Regierungschef zweier Pontifikate; auf der anderen sein Ruf, ein Mann des Apparats zu sein. Franziskus regierte mit Gesten – spontanen Telefonaten, Umarmungen, mutigen Reisen. Parolin hingegen bevorzugt das geschlossene Verhandlungszimmer, die vertrauliche Protokollnotiz. Viele Kardinäle, die Franziskus verdankt ihr Purpur, fragen sich, ob die Kirche nach Jahren symbolträchtiger Pastorale eine Phase nüchterner Governance braucht oder ob sie damit an Strahlkraft verliert (Pastorale Kongregation).
Ein Vergleich mit Pius XII
Parolins Gestalt erinnert an einen Vorgänger im Staatssekretariat: Eugenio Pacelli. 1939 erhob das Konklave den filigranen Diplomaten nach kurzer Wahl zum Papst Pius XII. Auch Pacelli war polyglott, aktenfest und in der Ostpolitik versiert. Parolin nennt ihn Vorbild und Warnung zugleich – bewundert für sein Organisationstalent, hinterfragt wegen des Schweigens zu Auschwitz (Historisches Institut der Jesuiten). Wiederholt sich mit Parolin ein Muster, bei dem diplomatische Brillanz in das Papstamt mündet? Oder wird die Geschichte einen anderen Weg wählen?
Die Wahl und ihre Szenarien
Im Gästehaus Santa Marta raunen Beobachter von taktischen Mehrheiten. Parolin könnte in den ersten Wahlgängen eine relative Mehrheit erzielen, um dann – mangels Zweidrittel‑Quorums – einem Kompromisskandidaten wie Matteo Zuppi, Luis Antonio Tagle oder Péter Erdő den Weg zu ebnen. Ein Pendelschlag, der an 1958 erinnert, als nach stundenlangem Ringen der Patriarch von Venedig als Johannes XXIII. auf den Schild gehoben wurde. Doch ebenso möglich ist, dass die stille Effizienz des Staatssekretärs die nötige Zahl von 90 Stimmen erreicht und Rom abermals einen Diplomaten auf den Stuhl Petri hebt (Annuario Pontificio 2025).
Dienst als Machtprüfung
Sollte Parolin tatsächlich auf der Benediktionsloggia erscheinen, wäre er erst der zweite amtierende Staatssekretär seit Pius XII., der direkt zum Papst aufsteigt. Seine Agenda läge klar vor ihm: die Fortführung wirtschaftlicher Transparenz, die Konsolidierung globaler Friedensinitiativen und die Antwort auf den Klimawandel, den er als „moralisches Gebot“ bezeichnet (Parolin‑Rede Paris 2015). Doch Diplomatie allein genügt nicht. Das Petrusamt verlangt moralische Orientierung, spirituelle Tiefe und den Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Parolins Laufbahn liefert reichlich Anschauungsmaterial dafür, wie sehr Gesprächsbereitschaft und Prinzipientreue miteinander ringen können.
In der Dämmerung über dem Vatikan züngeln erste Schwalben zwischen Kuppel und Glockenturm. Die Welt wartet auf weißen Rauch, die Kardinäle beten – und in der Mitte steht ein Mann, dessen größter Triumph gerade darin liegen könnte, im entscheidenden Augenblick nicht sich selbst, sondern die Kirche sprechen zu lassen. Macht im Vatikan ist Dienst, und Dienst ohne Demut ist nichts. Ob Pietro Parolin diese Wahrheit in eine weiße Soutane kleidet, entscheidet sich im Schatten Michelangelos.
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