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VOLKS-MACHT PUR!

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Wie die Schweiz per Urne regiert – und Deutschland & Österreich nur zusehen

Am ersten Sonntag im März – einem typischen eidgenössischen Abstimmungstag – öffnet die Primarschule im Zürcher Kreis 4 bereits um acht. Eltern mit Kinderwagen, Rentnerinnen mit Abstimmungskuverts und Studierende mit Kaffee in der Hand legen ihre Stimmzettel in die Urne; draussen hängt noch der Nebel, doch das Ritual wirkt so eingespielt wie ein Uhrwerk. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist das Resultat einer mehrhundertjährigen, erstaunlich vielschichtigen Geschichte. Wer verstehen will, weshalb die Schweiz ihre Politik bis heute regelmässig an den Urnen aushandelt – und welche Stärken und Schwächen dieses Modell im Vergleich zu den repräsentativen Systemen Deutschlands und Österreichs aufweist – muss in die mittelalterlichen Bergtäler zurückblicken, in denen alles begann.

Von der Landsgemeinde zum Bundesstaat

Die älteste Wurzel der direkten Demokratie liegt in der Landsgemeinde, jener offenen Ringversammlung, die schon im 14. Jahrhundert in Uri, Schwyz oder Glarus tagte, um Krieg, Steuern oder Allmenden zu regeln. Historiker wie Peter Stadler verweisen auf Urkunden, die 1387 erstmals eine solche Versammlung in Glarus belegen. Die Männer eines Tales hoben damals die Hand, wenn sie einer Entscheidung zustimmten – ein Grundmuster, das sich tief in das Selbstverständnis der Eidgenossenschaft einschrieb und den Mythos der „wehrhaften Bauernrepublik“ befeuerte.

Mit der Helvetischen Republik (1798 – 1803) und den napoleonischen Mediationsakten verschwand vieles von dieser Tradition vorübergehend, doch die Erinnerung blieb. Als 1848 die moderne Bundesverfassung angenommen wurde, schuf sie nicht nur den heutigen Bundesstaat, sondern übernahm zugleich zahlreiche kantonale Volksrechte. Entscheidend war die Revision von 1874: Sie führte das fakultative Referendum auf Bundesgesetze ein, erzwang also eine Volksabstimmung, wenn 30 000 Stimmberechtigte dies verlangten. 1891 kam mit der Volksinitiative das Agenda-Instrument hinzu: Wer – heute – 100 000 Unterschriften sammelt, kann die Bundesverfassung ändern lassen.

Politologe Wolf Linder beschreibt diese Konstruktion als „Zweitschrittsystem“: Erst erhielt das Volk ein Veto (Referendum) – die Notbremse –, dann eine Art Anlasser (Initiative), um selbst Gas zu geben. Seit 1848 fanden über 650 nationale Abstimmungen statt, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Das „Schweizer Labor“ liefert damit ein einzigartiges Datenmaterial für Demokratieforschung.

Mechanismen der Konsensdemokratie

Trotz der starken Volksrechte bleibt die Schweiz kein reines Plenumssystem, sondern eine Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie. Weil Regierung und Parlament fürchten müssen, dass ein Gesetz an der Urne scheitert, suchen sie früh breite Kompromisse. Adrian Vatter spricht von einer „präventiven Dialogmaschine“: Interessenverbände, Parteien und Kantone werden in sogenannten Vernehmlassungen eingebunden, lange bevor eine Vorlage in den National- oder Ständerat gelangt. Diese Kultur der Konkordanz sorgt dafür, dass Vorlagen oft schon vor der Abstimmung entschärft, aufgefächert oder ganz fallen-gelassen werden.

Ein zweiter Stützpfeiler ist der ausgeprägte Föderalismus. Kantone bestimmen über Schulen, Spitäler, Polizei, ja sogar über Steuerfüsse. Zudem stimmen Bürgerinnen und Bürger nicht nur vier- bis fünfmal im Jahr auf Bundesebene ab, sondern auch in ihren Gemeinden und Kantonen; manche Zürcher stimmen jährlich über 30 Dossiers. Diese ständig trainierte politische Muskulatur erklärt, weshalb in Umfragen – etwa dem Sustainable Governance Indicator – regelmässig ein hohes Vertrauen in Institutionen gemessen wird.

Deutschland: Vorsicht vor dem Plebiszit

Nur wenige Auto­stunden nördlich verläuft die Geschichte anders. Die Weimarer Republik hatte Volksabstimmungen zwar vorgesehen, doch die Befugnis von Reichspräsidenten wie Hindenburg, mit Notverordnungen zu regieren, und die Manipulation plebiszitärer Mittel durch die Nationalsozialisten hinterliessen Narben. 1949 entschieden die Schöpfer des Grundgesetzes, direkte Volksrechte auf Bundesebene fast völlig auszuschliessen. Lediglich bei einer Neugliederung der Länder (Artikel 29) oder einer vollkommen neuen Verfassung (Artikel 146) müsste das Volk entscheiden. De facto existiert also kein Bundes-Referendum.

In einzelnen Bundesländern (Bayern, Hamburg, Berlin) wurden zwar ab den 1990er-Jahren Initiativen und Referenden eingeführt, doch sie betreffen primär Schul-, Verkehrs- oder Baufragen. Politikwissenschaftler wie Gerhard Lehmbruch verweisen darauf, dass Deutschland stattdessen ein horizontal ausbalanciertes System pflegt: Bundestag und Bundesrat kontrollieren sich gegenseitig, das Bundesverfassungsgericht wacht streng über Grundrechte, und ein proportionales Wahlrecht zwingt Parteien zu Koalitionen. Die repräsentativen Instanzen werden nicht umgangen, sondern gegeneinander ins Gleichgewicht gebracht.

Österreich: Plebsizitärer Feinglanz mit hohen Hürden

Österreich kennt seit 1920 drei Werkzeuge: das Volksbegehren (gesetzesanregend), die Volksbefragung (konsultativ) und die Volksabstimmung (bindend). Dennoch wurden seit 1945 bloss zwei bundesweite Referenden abgehalten: das Nein zum Kernkraftwerk Zwentendorf 1978 und das Ja zum EU-Beitritt 1994. Zwar erreichen Volksbegehren regelmässig das Quorum von 100 000 Unterschriften, landen dann aber oft in Parlamentsausschüssen ohne weitere Folgen. Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle beschreibt das System als „plebiszitären Feinglanz“: Die Instrumente existieren, sind aber politisch kaum scharf.

Befürworter – etwa die NGO Mehr Demokratie! – drängen auf niedrigere Quoren und verbindlichere Verfahren. Skeptiker verweisen auf die Gefahr, komplexe Rechtsmaterien in simplen Ja-Nein-Entscheiden zu verflachen. Hinzu kommt der historisch gewachsene zentrale Einfluss der Bundesparteien SPÖ und ÖVP, die ungern Macht mit zufälligen Volksmehrheiten teilen.

Vorteile des Schweizer Modells

Vergleicht man die drei Länder, stechen mehrere Pluspunkte des Schweizer Ansatzes hervor.

Erstens erhöht er die Responsivität. Studien von Bruno S. Frey zeigen, dass Regierung und Parlament Entwürfe an der mutmasslichen Volksmehrheit ausrichten, selbst wenn es nie zum Referendum kommt. Das Volk fungiert als ständige Drohkulisse, wodurch sich Beschlüsse dem Medianwähler annähern.

Zweitens zwingt das Vetorecht Interessengruppen zur Kooperation. Unternehmen, Gewerkschaften, Umwelt-NGOs und Kantonsregierungen sitzen früh am Tisch, weil jeder sein eigenes Referendum in der Hinterhand hat. So entstehen breit abgestützte Kompromisse, die später nicht zerfleddert werden.

Drittens fördert der permanente Urnengang die Civic Literacy. Wer viermal im Jahr Broschüren liest, lernt politische Zusammenhänge besser verstehen. Gemäss der Selects-Studie stufen Schweizerinnen ihr politisches Wissen höher ein als Deutsche oder Österreicher.

Viertens wirken die Volksrechte als Budgetbremse. Ökonomen wie Lars Feld weisen auf tiefere Schulden- und Staatsquoten hin, weil teure Projekte eine zusätzliche Hürde nehmen müssen.

Die Schattenseiten: Trägheit, Populismus, Minderheitenrisiken

Das Modell ist jedoch kein Allheilmittel. Kritiker wie Markus Freitag verweisen auf strukturelle Trägheit: Weil bereits ein kleineres Komitee 50 000 Unterschriften für ein Referendum sammeln kann, kommt es bei umstrittenen Dossiers häufig zum Stillstand. Das Klimagesetz scheiterte 2021 knapp; ein neues musste erst 2023 ausgearbeitet werden.

Hinzu kommt die Gefahr des Mediendominanz-Effekts. Kampagnen werden kostspieliger, professionelle Agenturen entwerfen Slogans, reiche Lobbys verschaffen sich Gehör. Die Bundeskanzlei errechnete, dass das Ja-Lager bei Abstimmungen durchschnittlich doppelt so viel Geld ausgibt. Zwar verlangt die Schweiz seit 2024 strengere Transparenzerlasse, doch Geld bleibt ein Einflussfaktor.

Ein drittes Problem ist der Tyrannei-Vorwurf. Entscheidungen der Mehrheit können Grundrechte von Minderheiten berühren. Die Initiative gegen Minarette (2009) und das 2021 beschlossene Verhüllungsverbot trafen religiöse Minderheiten hart. Verfassungsrechtler Andreas Auer warnt deshalb, direktdemokratische Entscheide müssten stärker an internationalen Menschenrechtsstandards gespiegelt werden.

Schliesslich bleibt die Beteiligung zwar regelmässig, aber keineswegs rekordverdächtig. Die Durchschnitts­beteiligung an eidgenössischen Abstimmungen liegt bei rund 45 Prozent. Demokratieforscher Daniel Kübler nennt das „halbvolle Urnen“: Wer sich beteiligt, ist hoch informiert; wer es nicht tut, bleibt oft dauerhaft fern – ein Risiko für die soziale Repräsentativität.

Stärken der repräsentativen Nachbarn

Deutschland und Österreich weisen dafür andere Stärken auf. Das deutsche System schützt Grundrechte besonders effektiv. Das Bundesverfassungsgericht hob seit 1951 über 200 Parlamentsgesetze ganz oder teilweise auf, wenn sie unverhältnismässige Eingriffe darstellten. In der Schweiz existiert kein Verfassungsgericht, Bundesgesetze sind dort der Überprüfung entzogen. Minderheitenrechte stehen also stärker unter dem Druck der Volksmehrheit.

Österreich wiederum profitiert von Entscheidungs­geschwindigkeit. Eine Regierung mit Mehrheit im Nationalrat kann Projekte innert Monaten umsetzen. Wo die Schweiz Jahre für eine griffige Reform an Alters- oder Gesundheitswesen benötigt, vermag Wien rascher zu reagieren – freilich um den Preis, dass Opposition und Zivilgesellschaft weniger Eingriffsmöglichkeiten erhalten.

Beide Nachbarn vermeiden zudem Abstimmungsmüdigkeit. Bürger müssen nicht ständig Dossiers lesen, können sich stärker auf Wahlen konzentrieren. Politpsychologen wie Oskar Niedermayer argumentieren, der durchschnittliche Wähler verfüge nur über begrenzte kognitive Ressourcen; zu viele Entscheide könnten Überforderung erzeugen.

Lektionen für Europa

Lässt sich das Schweizer Modell exportieren? Politikwissenschaftler Andreas Gross warnt vor einem reinen Baukasten-Denken. Direkte Demokratie gedeihe im Zusammenspiel von Gemeindeautonomie, Milizsystem und einer politischen Kultur, die seit Jahrhunderten Konflikte de-eskaliert. Ohne diese Grundlagen drohe das Plebiszit zum Polarisationsmotor zu werden.

Dennoch könnten Deutschland und Österreich Teile übernehmen. Diskutiert wird etwa ein obligatorisches Referendum bei EU-Vertragsänderungen oder mehr Verbindlichkeit für Bürgerbegehren. Wichtig wäre, zugleich Transparenzregeln, Medienpluralismus und Civic Education auszubauen, um Populismus einzudämmen. Die Schweiz wiederum könnte von ihren Nachbarn lernen, ein Verfassungsgericht einzuführen oder zumindest eine verfassungsgerichtliche Vorprüfung von Initiativ­texten einzubauen, damit Grundrechte nicht nachträglich repariert werden müssen.

Fazit

Direkte Demokratie schenkt Bürgerinnen und Bürgern Macht – und verlangt ihnen viel ab. Sie zwingt Eliten zur Offenheit, doch sie setzt auch voraus, dass dieselben Bürger Zeit, Sachkenntnis und Verantwortung übernehmen. Die Schweiz hat dieses Gleichgewicht in Jahrhunderten der langsamen Evolution gefunden. Deutschland und Österreich – geprägt von anderen historischen Erfahrungen – setzen auf den Primat der Repräsentation und geben dem Volk punktuell das Wort. Welches System „besser“ ist, hängt weniger von abstrakten Normen ab als von Geschichte, Bevölkerungsgrösse, föderalem Zuschnitt und politischer Kultur.

Am Ende illustrieren die drei Länder unterschiedliche Wege, das gleiche demokratische Versprechen einzulösen: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Die Schweiz nimmt den Satz wörtlich und ruft das Volk regelmässig an die Urne. Deutschland und Österreich delegieren die Macht zunächst an Parlamente und lassen das Volk darüber wachen, wer dort sitzt. Dass alle drei Modelle stabile, freiheitliche und wirtschaftlich erfolgreiche Staaten hervorbringen können, zeigt: Demokratie ist kein Monolith, sondern ein lebendiger Organismus, der sich je nach Umgebung anders entfaltet. Vielleicht liegt gerade darin seine grösste Stärke.