Wie China vom deutschen Automobil-Know-how profitierte – und weshalb die Volksrepublik heute die Taktzahl im Elektro-Zeitalter vorgibt
Als sich in den späten 1980er-Jahren die Tore der Volksrepublik für westliche Autobauer öffneten, waren es vor allem die deutschen Hersteller, die das Abenteuer wagten. Volkswagen und Audi unterschrieben 1988 und 1990 die bis heute wegweisenden Joint-Venture-Verträge mit FAW – und lieferten damit nicht nur Pressen, Schweißroboter und Montagelinien, sondern ganze Schulungskonzepte für chinesische Ingenieure und Facharbeiter (FAW-Volkswagen). Schon wenige Jahre später rollten in Changchun und später in Chengdu Jetta-, Bora- und Audi-Modelle in Stückzahlen vom Band, die in Europa staunen ließen. Die Botschaft war klar: „Deutsche Präzision“ galt in China als Synonym für Qualität und technologischen Vorsprung. Doch Know-how-Transfer ist keine Einbahnstraße. Die chinesischen Partner lernten im Alltag der Fabriken, wie man Qualitätsprozesse aufbaut, Lieferketten steuert und Fahrzeuge sicher homologiert. Damit war der Grundstein gelegt, um irgendwann eigene Wege zu gehen.
Vom Schüler zum Taktgeber
Was folgte, war eine strategische Meisterleistung der chinesischen Industriepolitik. Mit gezielten Vorgaben, großzügigen Subventionen und immer strengeren Lokalisierungsquoten drängte Peking die ausländischen Hersteller dazu, Forschung, Design und später auch Batteriefertigung in China anzusiedeln (Chinesisches Industrieministerium). Der Lerneffekt war gewaltig: Ingenieure, die einst in Wolfsburg oder Ingolstadt im Rahmen von Austauschprogrammen Fortbildungen erhielten, trugen ihr Wissen später zu BYD, SAIC, Geely oder Nio. Parallel kauften chinesische Unternehmen deutsche Schlüsselzulieferer – vom Augsburger Roboterbauer Kuka bis zu kleineren Getriebespezialisten – und gewannen Top-Talente direkt ab: Allein Xiaomi stellte in den vergangenen Monaten fünf ehemalige BMW-Manager für sein neues europäisches Entwicklungszentrum ein (Handelsblatt).
Der Erfolg ist messbar. Während deutsche Marken ihren Anteil am chinesischen Gesamtmarkt von 24 Prozent (2020) auf nur noch 15 Prozent (2024) einbüßten, stiegen die heimischen Hersteller im selben Zeitraum auf über 60 Prozent Marktanteil – vor allem dank strombetriebener Modelle (China Association of Automobile Manufacturers). BYD verkaufte 2024 bereits 1,76 Millionen reine Elektroautos und wird laut Analysten von Counterpoint Research 2025 erstmals globale Nummer eins bei BEV-Verkäufen sein. Selbst US-Platzhirsch Tesla spürt den Atem der Chinesen im Nacken (Bloomberg).
Warum Deutschland den Anschluss verlor
Die Ursachen liegen nicht nur in technischer Trägheit, sondern in strukturellen Versäumnissen:
- Batterie-Rückstand – CATL, BYD und CALB liefern inzwischen Zellen unter 70 US-Dollar/kWh. Deutsche Projekte wie Northvolt-2 oder ACC starteten später, kämpften mit Finanzierungslücken und mussten nach dem Northvolt-Konkurs 2025 ihre Pläne zusammenstreichen (Financial Times).
- Software und Halbleiter – Service-Updates „over the air“, App-Ökosysteme und Level-3-Autonomie sind bei chinesischen Marken oftmals Serienstandard. Deutsche OEMs dagegen hängen bei Betriebssystem-Architekturen zurück und beziehen zentrale Rechenplattformen vielfach extern.
- Kostenstruktur – Höhere Löhne, Energiepreise und komplexe Zulieferpyramiden verteuern jedes Fahrzeug „Made in Germany“ um mehrere tausend Euro.
- Marktferne – In China entscheidet die Generation Z binnen Sekunden per App-Video, welches Auto sie kauft. Langwierige Typgenehmigungen und modellzyklisches Facelifting passen nicht zu diesen Erwartungen.
Was die deutschen Hersteller jetzt tun (müssen)
Die Konzerne haben die Botschaft verstanden – aber die Uhr tickt. Volkswagen legt in seinem Fünf-Jahres-Plan bis 2028 gewaltige 180 Milliarden Euro für Elektrifizierung, Software und Batterien zurück; rund 15 Milliarden davon fließen allein in Zellfabriken (Volkswagen AG). Die konzerneigene Tochter PowerCo baut in Salzgitter eine Gigafactory mit 40 GWh Jahreskapazität, genug für eine halbe Million Autos, und arbeitet an der Einheitszelle, die ab 2026 weltweit eingeführt werden soll (PowerCo).
Mercedes-Benz fokussiert sich auf skalierbare EVA-2- und MMA-Plattformen, investiert Milliarden in eigene E-Achsmodule und verlangt gleichzeitig eine EU-Handelslösung, die Innovation statt Strafzöllen belohnt (Reuters). BMW setzt auf Batterierundzellen aus eigenem Pilotwerk in Parsdorf und kündigt Software-Updates im Drei-Monats-Takt an. Parallel pumpt Berlin über das Deutschlandnetz 6,7 Milliarden US-Dollar in Schnelllade-Infrastruktur, um den Binnenmarkt attraktiver zu machen (Bundesministerium für Digitales und Verkehr).
Investitionen, die wirklich nötig wären
Doch Einzelmaßnahmen reichen nicht. Studien des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) und der Fraunhofer-Institute kalkulieren, dass deutsche Hersteller und Zulieferer bis 2030 zusätzlich rund 250 bis 300 Milliarden Euro in fünf Kernfelder stecken müssten, um technologisch wieder vorn zu liegen:
- Batteriezell- und Rohstoffsicherung
Bau von mindestens vier weiteren Gigafactories (je > 40 GWh) plus langfristige Rohstoff-Offtakes in Afrika, Kanada und Australien. - Halbleiterfertigung für Automobil-MCUs
Beteiligung an europäischen Chipfabriken und eigene Designdivisionen, um Engpässe wie 2021 zu verhindern. - Software-Defined Vehicle
15 000 zusätzliche Entwickler, agile Arbeitsmodelle und ein einheitliches Linux-basiertes Betriebssystem über alle Marken hinweg. - Solid-State-Batterie und Brennstoffzelle
Beschleunigte Skalierung der Fraunhofer-Roadmap, die Serienreife für Festkörperzellen ab 2032 vorsieht (Fraunhofer ISI). - Grüne Lieferketten und Recycling
Aufbau geschlossener Materialkreisläufe (Nickel, Lithium) mit mindestens 95 Prozent Wiederverwertungsquote, um EU-Taxonomie-Vorgaben zu erfüllen.
Allein Volkswagen müsste hierfür jedes Jahr zehn Prozent seines Umsatzes reinvestieren, BMW und Mercedes acht Prozent – konzernweit höher als jemals zuvor.
Politische Flankierung
Die Industrie kann diese Summen nicht ohne Rahmenbedingungen stemmen. Die EU strebt an, 90 Prozent des Batteriebedarfs bis 2030 in Europa zu fertigen, liegt aktuell jedoch deutlich zurück (Europäische Kommission). Förderinstrumente wie IPCEI-Batterieprojekte, der Chips-Act und Carbon-Contracts-for-Difference müssen daher substantiell aufgestockt werden. Gleichzeitig sollten Genehmigungsverfahren für Fabriken auf sechs Monate begrenzt und Strompreise für industrielle Großabnehmer gedeckelt werden, um internationale Parität zu schaffen. Peking demonstrierte, wie ein straffer regulatorischer Rahmen in Kombination mit Kaufprämien einen Massenmarkt aus dem Boden stampfen kann.
Kulturwandel als Schlüssel
Neben Kapital zählt vor allem Geschwindigkeit. Die Erfolgsformel der chinesischen Hersteller lautet: Prototyp bis SOP in unter 24 Monaten, Software-Updates im Monatsrhythmus, Risiko-Freude bei neuen Geschäftsmodellen (Batteriewechsel, Abo-Services). Um diese Taktzahl übernehmen zu können, müssen deutsche Unternehmen Bürokratien abbauen und Entscheidungswege radikal verkürzen. Dass Volkswagen mittlerweile Design- und Engineering-Teams direkt in Guangzhou und Hefei ansiedelt, wo Entwickler von Xpeng Seite an Seite mit Wolfsburger Kollegen neue Architekturen entwerfen, zeigt den nötigen Pragmatismus (Automotive News Europe).
Fazit
Chinas Vorsprung in der E-Mobilität ist das Resultat eines über Jahrzehnte aufgebauten Know-how-Transfers, konsequenter Industriepolitik und eines Marktes, der Innovationen belohnt, nicht bestraft. Deutschland steht nun vor der Wahl, diesen Prozess als Chance zur eigenen Neuaufstellung zu begreifen. Mit dreistelligen Milliardenbeträgen, einer mutigen Abkehr von alten Pfaden und einer Offenheit für Partnerschaften – auch mit ehemaligen „Schülern“ – kann die deutsche Autoindustrie wieder zum Taktgeber werden. Bleibt sie jedoch im Status quo verhaftet, wird sie erleben, wie die nächste Technologiewelle nicht mehr an den Ufern des Jangtse, sondern an den Bändern von Zwickau, Sindelfingen und Dingolfing vorbeirauscht. Die Zukunft fährt elektrisch – und sie wartet nicht.
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