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Selenski entmachtet Korruptionsbehörde – Zerbricht jetzt Europas Vertrauen in die Ukraine?

Wolodymyr Selenski galt lange Zeit als Symbol des demokratischen Widerstands. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 stand der ehemalige Schauspieler und Comedian wie kaum ein anderer Politiker im Fokus internationaler Aufmerksamkeit – als Integrationsfigur eines unter Belagerung stehenden Landes, als moralisches Gegengewicht zur brutalen Aggression Moskaus, als Hoffnungsträger der liberalen Weltordnung. Doch mit der jüngsten Entscheidung, die wichtigste ukrainische Antikorruptionsbehörde faktisch aufzulösen und ihre Kompetenzen massiv zu beschneiden, droht dieses Bild tiefe Risse zu bekommen. Hinter der Fassade von Krieg und Verteidigung beginnt ein gefährlicher Umbau des ukrainischen Staatsapparates – einer, der nicht nur innenpolitisch heikel, sondern auch außenpolitisch hochbrisant ist.

Die Nationale Agentur zur Korruptionsprävention (NAZK), gegründet 2015 im Zuge der Maidan-Revolution und seither eine der zentralen Institutionen im ukrainischen Antikorruptionsgefüge, wurde in den vergangenen Wochen systematisch entmachtet. Selenski unterschrieb Mitte Juni ein Dekret, das der Agentur das Zugriffsrecht auf zentrale Datenbanken entzog und zugleich ihre Möglichkeiten einschränkte, öffentliche Beamte auf Interessenskonflikte und Vermögensoffenlegung hin zu überprüfen. Noch schwerwiegender wirkt der Umstand, dass dies ohne parlamentarische Debatte und nahezu im Schatten des Krieges geschah. Beobachter sprechen von einem „kalten Verwaltungsputsch“ – juristisch sauber, demokratisch zweifelhaft.

Offiziell verweist das Präsidialamt auf angebliche Ineffizienz und Reformbedarf. Die Agentur habe sich zu sehr auf Bürokratie und symbolische Maßnahmen konzentriert, sei in der Praxis oft „machtlos“ gegenüber großen Vergehen gewesen. Tatsächlich war die NAZK nie frei von Kritik – etwa wegen mangelnder Durchsetzungskraft oder fragwürdiger Personalentscheidungen in ihren Anfangsjahren. Doch im internationalen Vergleich galt sie als Fortschritt. Sie führte das elektronische Register zur Vermögensoffenlegung ein, betrieb die Blacklisting-Datenbank für korrupte Amtsträger und arbeitete eng mit EU-Behörden sowie der Weltbank zusammen. Gerade in der Zeit vor dem russischen Angriff fungierte die NAZK als glaubwürdiges Bindeglied zwischen Brüssel und Kiew in Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Ihre Demontage sendet daher ein fatales Signal – und trifft die europäische Staatengemeinschaft zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.

Denn die Ukraine steht am Scheideweg. Auf der einen Seite wird sie von vielen als Beitrittskandidat zur Europäischen Union mit Vorrang behandelt. Brüssel hat erhebliche Vorleistungen erbracht, von milliardenschwerer finanzieller Unterstützung bis hin zu administrativer Hilfe im Wiederaufbau. Auf der anderen Seite wächst die Skepsis, ob Kiew tatsächlich bereit ist, die tief verankerten Strukturen der Korruption zu durchbrechen – oder ob die Kriegsrhetorik zunehmend als Deckmantel für eine neue Zentralisierung der Macht dient. Dass die Auflösung der NAZK mit kaum nennenswerter öffentlicher Debatte einherging, wirkt in diesem Licht wie eine düstere Parabel auf ein Land, das zwar im Krieg überlebt, aber im Frieden zu alten Mustern zurückkehrt.

Beunruhigend ist vor allem, mit welcher Selbstverständlichkeit Selenski und sein Umfeld den autoritären Gestus bedienen. Die Entmachtung der NAZK war kein Einzelfall. Bereits im Frühjahr wurde der Chef der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO), Oleksandr Klymenko, öffentlich diskreditiert und seine Ermittlungsbefugnisse eingeschränkt – offiziell wegen angeblicher „Verfahrensmängel“, inoffiziell wohl eher, weil seine Behörde zu unbequemen Fragen in Regierungskreisen vorgestoßen war. Auch das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) kämpft seit Monaten mit politischen Eingriffen und Budgetkürzungen. Zusammengenommen entsteht der Eindruck eines systematischen Rückbaus jener Kontrollinstanzen, die nach der Revolution von 2014 mühsam aufgebaut wurden – unter tatkräftiger Mithilfe westlicher Partner.

In der Europäischen Union sorgt diese Entwicklung zunehmend für Verstimmung. Während die Kommission bislang eher zurückhaltend formulierte, mehren sich kritische Stimmen im Europäischen Parlament. Die niederländische Abgeordnete Sophie in ’t Veld sprach von einem „schmerzhaften Rückschritt“ und forderte, EU-Gelder künftig stärker an überprüfbare Antikorruptionsmechanismen zu binden. Auch aus Frankreich und Deutschland werden leisere, aber deutliche Töne laut. Zwar vermeidet man eine offene Konfrontation mit Selenski, aus Angst, dem Kreml Propagandamunition zu liefern. Doch hinter verschlossenen Türen wächst die Sorge, dass die Ukraine sich zunehmend in ein hybrides System verwandelt – formal demokratisch, praktisch jedoch durch informelle Netzwerke kontrolliert.

Diese Ambivalenz ist nicht neu. Schon vor dem Krieg war die Ukraine ein Land voller Widersprüche: Einerseits mit einer lebendigen Zivilgesellschaft, mutigen Journalisten und progressiven Bürgerbewegungen – andererseits durchzogen von oligarchischen Strukturen, klientelistischer Politik und administrativer Willkür. Selenski selbst kam mit dem Versprechen an die Macht, eben diesen Sumpf auszutrocknen. Seine Serie Diener des Volkes war mehr als Satire – sie war ein Versprechen auf moralische Erneuerung. Umso paradoxer erscheint es, dass ausgerechnet unter seiner Präsidentschaft die zentralen Errungenschaften der Korruptionsbekämpfung untergraben werden.

Ein Vergleich mit den Jahren 2015 bis 2019 verdeutlicht das Ausmaß der Veränderung. Damals wurden unter westlichem Druck neue Behörden gegründet, unabhängige Gerichte gestärkt und erstmals Verfahren gegen ranghohe Beamte geführt – teils mit internationalem Echo. Die EU knüpfte ihre Finanzhilfen direkt an Fortschritte in der Rechtsstaatlichkeit, und Kiew kam diesen Forderungen zumeist nach, wenn auch oft widerwillig. Heute jedoch scheint diese Koppelung zunehmend zu erodieren. Die Angst vor einem Scheitern der Ukraine im Krieg überdeckt andere Kriterien. Die westliche Hilfe fließt weiter, aber sie verliert an Konditionalität – ein Zustand, der langfristig gefährlicher sein könnte als jedes militärische Risiko.

Denn die Frage, wie ein zukünftiges EU-Mitgliedsstaat die Prinzipien von Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und institutioneller Transparenz behandelt, ist keine Randnotiz. Sie betrifft das Selbstverständnis der Union, gerade in einer Zeit, in der populistische Regierungen in Ungarn und der Slowakei bestehende Regeln offen aushebeln. Sollte die Ukraine nun als Präzedenzfall gelten, in dem man der politischen Führung zu viel durchgehen lässt, um kurzfristige Stabilität zu sichern, riskiert Europa seine Glaubwürdigkeit.

Selenski mag auf dem Schlachtfeld ein mutiger Präsident sein. Doch die politische Zukunft seines Landes entscheidet sich nicht nur in den Schützengräben des Donbass, sondern auch in den Amtsstuben von Kiew. Wer Antikorruptionsbehörden entmachtet, schafft Vertrauen ab. Wer Checks und Balances schleift, rüttelt am Fundament jeder Demokratie. Und wer diese Tendenzen hinter dem Mantel des Ausnahmezustands verbirgt, sendet ein Signal an jene Teile der Welt, für die Recht und Ordnung längst nur noch taktische Begriffe sind.

Europa steht vor einer delikaten Herausforderung. Es muss der Ukraine weiter helfen, darf aber nicht wegsehen, wenn aus einem Hoffnungsträger ein Systempolitiker wird, der sich zunehmend der Kontrolle entzieht. Die Balance zwischen Solidarität und Kritik ist schwierig – aber notwendig. Ein klarer europäischer Kurs, der sowohl militärische Unterstützung als auch rechtsstaatliche Prinzipien ernst nimmt, könnte Selenski zwingen, die Demontage unabhängiger Institutionen zu überdenken.

Noch ist es nicht zu spät. Die ukrainische Gesellschaft ist wacher als viele vermuten, Journalisten und NGO-Vertreter schlagen Alarm, und selbst in der Regierung mehren sich Stimmen, die die Entscheidung zur Schwächung der NAZK als strategischen Fehler ansehen. Es liegt nun an Brüssel, diese Stimmen zu stärken, anstatt aus Opportunismus zu schweigen. Denn wer sich der Idee Europas verpflichtet fühlt, darf nicht nur dann Prinzipien einfordern, wenn sie bequem sind. Die Stunde der Integrität schlägt nicht im Glanz diplomatischer Erklärungen – sondern in der Klarheit unbequemer Worte.